Die Essbiografie: Bedeutsamer als vielfach gedacht 

Essen und Trinken sind weit mehr als das rein physiologische Grundbedürfnis, den Körper mit ausreichend Energie und Nährstoffen zu versorgen. Mit der Auswahl der Speisen und Getränke sowie der Gestaltung der Essumgebung sind soziale, emotionale wie auch kulturelle Aspekte verbunden. Diese können sich über das gesamte Leben verändern und mit den wandelnden Lebensumständen weiterentwickeln. Eben diese individuellen Gewohnheiten und Vorlieben rund um Mahlzeiten, die persönlichen Bräuche, Gerichte zu besonderen Festlichkeiten und damit verbundene Emotionen, Erinnerungen und Traditionen sind es, die vielen Menschen das Gefühl von Sicherheit und Halt vermitteln. Werden all diese Dimensionen rund um das Essen und Trinken ausführlich in einer Essbiografie erfragt und dokumentiert, so trägt diese wesentlich dazu bei, die Auswahl der Speisen und Getränke, wie auch die Essumgebung nah an den Wünschen der zu pflegenden Person auszurichten. Neben dem persönlichen Austausch mit der zu pflegenden Person ist die Essbiografie so eine gute Quelle für Informationen, die bei der Verpflegung älterer Menschen zu Hause oder in der Senioreneinrichtung unterstützen und damit auch ein wichtiges Instrument im Kampf gegen Mangelernährung sein kann.

 

Die Essbiografie ist Abbild der Werte eines Lebens

Essen und Trinken gehen weit über die Versorgung des Körpers mit Energie und Nährstoffen hinaus. Eine den individuellen Vorlieben entsprechende und liebevoll angerichtete Mahlzeit, die auch bei Beeinträchtigungen möglichst eigenständig verzehrt werden kann, fördert den Genuss und ist Ausdruck von Wertschätzung gegenüber einem älteren Menschen. Gleichermaßen zu Hause wie in der Senioreneinrichtung strukturieren Mahlzeiten den Tag und bieten somit Orientierung. Zudem können sie Erinnerungen wecken, z. B. an die Kindheit oder vergangene Urlaubsreisen und damit positive oder auch negative Emotionen auslösen. Finden Mahlzeiten gemeinsam mit anderen Menschen statt wie bei Mittagstisch-Angeboten oder in der Senioreneinrichtung, so werden diese zu Orten der Teilhabe und des Austauschs. Nicht zuletzt spiegeln bestimmte Speisen und damit verbundene Rituale auch Kultur, Brauchtum oder Religion wieder. Beispiele dafür sind der Geburtstagskuchen, das Weihnachtsessen oder regionale Spezialitäten.
Diese Dimensionen rund um das Essen und Trinken sind damit Teil der persönlichen Identität und Spiegel persönlicher Werte, die für jede Person eine unterschiedlich hohe Bedeutung haben. Sind ältere Menschen nicht mehr in der Lage Lebensmittel selbstständig einzukaufen, zuzubereiten oder die Speisen zu verzehren, geht damit oft ein Stück Selbstbestimmung verloren.

Über eine Essbiografie diejenigen Aspekte zu erfahren, die der betroffenen Person wichtig und ggf. Teil ihrer Identität sind, hat deshalb eine hohe Bedeutung. Loten Sie daher immer wieder gemeinsam Möglichkeiten aus, wie sich die zu pflegende Person z. B. in die Planung von Mahlzeiten oder in kleinere hauswirtschaftliche Tätigkeiten einbringen kann, wie Wünsche berücksichtigt und die Eigenständigkeit erhalten werden kann. Berücksichtigen Sie diese Aspekte auch und besonders dann, wenn körperliche Veränderungen, Beeinträchtigungen oder Erkrankungen auftreten. Sie tragen damit wesentlich zu Wertschätzung und Wohlbefinden der zu pflegenden Person bei, ebenso wie zu Minderung des Risikos einer Mangelernährung und eines Flüssigkeitsmangels, wenn Veränderungen rund um die Ernährung bzw. das Ernährungsverhalten gut dokumentiert und berücksichtigt werden.

Tipp: Das Erfassen von Wünschen zu Hause lebender älterer Menschen, die „Essen auf Rädern" erhalten, ist ebenfalls sinnvoll und wichtig. Dies kann durch das Servicepersonal bei der Bestellung, durch Anrufe oder Befragungen zur Zufriedenheit der Kund*innen oder durch einen ambulanten Pflegedienst erfolgen, wenn dieser auch bei der Speisenauswahl berät.

Hat die ökologische Nachhaltigkeit Relevanz für die Essbiografie?

Das Thema Nachhaltigkeit hat speziell im Kontext der Ernährung und Verpflegung eine hohe Bedeutung. Denn die Produktion von Lebensmitteln ist eng mit dem Ausstoß von klimarelevanten Gasen sowie mit Auswirkungen auf die Umwelt verbunden. Mit einer bevorzugt pflanzenbetonten Verpflegung haben Sie es in der Hand, diese zu reduzieren. Im Rahmen der Erarbeitung einer Essbiografie können daher auch nachhaltige Aspekte in den Blick genommen werden. Dieses Thema und ein entsprechendes Handeln zählt vielfach auch für ältere Menschen zu lange etablierten Werten ihres Lebens. Stellen Sie Ihr Engagement rund um dieses wichtige Thema vor und loten Sie über die Essbiografie aus, welche Bedeutung einzelne Aspekte für die befragte Person haben oder welche weiteren Ideen und Anregungen diese hat.

 

Die Essbiografie nach individuellem Bedarf gestalten

Für die Gestaltung einer Essbiografie gibt es keine festen Vorgaben. Jeder ambulante Pflegdienst oder jede Senioreneinrichtung kann die Essbiografie den Angeboten des Hauses entsprechend frei gestalten. Ebenso kann die Erhebung auch durch unterschiedliche Personen erfolgen, z. B. durch:

  • die Einrichtungsleitung im Rahmen des Aufnahmegesprächs,
  • durch das Küchenpersonal,
  • Sie als Pflegekraft,
  • durch hauswirtschaftliches Personal ebenso wie
  • durch das Servicepersonal oder den Mahlzeitendienst bei einem Angebot von „Essen auf Rädern“.

Wenn es für Sie hilfreich erscheint, kann das Erfassen der Essbiografie themenbezogen auch von verschiedenen Bereichen erfolgen. Wichtig ist jedoch dass die persönliche Essbiografie in der Pflegedokumentation der entsprechenden Person zusammengeführt wird. Alle an der Verpflegung beteiligten Bereiche sollten Zugriff darauf haben und bei Veränderungen müssen die Zuständigkeiten darüber festgelegt sein, wer aktualisiert und die relevanten Bereiche entsprechend informiert. Für das Küchenteam sind die Essbiografien der Bewohner*innen eine wichtige Grundlage für die Speiseplanung. Für das Team der Hauswirtschaft und/oder der Pflege ist sie die Quelle für Informationen zur individuellen Essplatzgestaltung.

Welche Themenbereiche können aufgegriffen werden?

Wie kann eine Essbiografie gestaltet werden, die es ermöglicht einen älteren Menschen wertschätzend und in gewohnter Weise zu verpflegen, auch wenn das Erinnerungsvermögen nachlässt und die Fähigkeit, Wünsche konkret zu äußern, verloren geht? Welche Informationen müssen erfragt werden, damit die Essbiografie dabei unterstützen kann, eine Mangelernährung zu vermeiden? Welche Fragen sollten gestellt werden, um über die persönliche Lieblingsspeise aus der Kindheit eine Brücke zu einem älteren Menschen schlagen zu können, der an Demenz erkrankt ist?
Basierend auf den Fragen, die sich Ihnen stellen, kann die Essbiografie in beliebig viele verschiedene Themenbereiche gegliedert werden wie Wünsche und Bedürfnisse rund um die:

  • Ernährung/Verpflegung,
  • Gestaltung der Essumgebung,
  • Gestaltung des Essplatzes,
  • Aspekte der Nachhaltigkeit rund um die Verpflegung, die auch in die oben genannten Bereiche integriert werden kann.

Wichtig ist es, in allen Bereichen sowohl Wünsche zur aktuellen Situation wie auch Wünsche bzw. Erinnerungen aus der Kindheit zu erfragen, wenn dies möglich ist. Hilfreich können auch konkrete Fragen nach angenehmen und ggf. auch unangenehmen Erinnerungen bezüglich der Ernährung wie auch der Umgebungsgestaltung sein. Darüber hinaus haben für die Erstellung der Essbiografie auch Fragen zu den bereits genannten sozialen, emotionalen und kulturellen Aspekten Relevanz sowohl für den Bereich Ernährung wie auch die Gestaltung der Essumgebung. Das Thema Nachhaltigkeit kann einen eigenen Bereich bilden oder mit zusätzlichen Fragen in die bereits bestehende Biografie eingearbeitet werden.

Beispiele für Fragen rund um die Gestaltung der Ernährung oder Verpflegung

 

Beispiele für Fragen rund um die Gestaltung von Essumgebung bzw. Essplatz 

Weiterführende Informationen finden Sie unter dem Stichwort: Essbiografie

 

Eine gute Quelle braucht gute Informant*innen

Die Essbiografie ist ein lebendiges Dokument, das als Bestandteil der Pflegedokumentation kontinuierlich aktualisiert und weitergeführt werden sollte. Denn auch im Alter können sich der Geschmack und die Vorlieben verändern sowie neue bzw. andere Speisen als Lieblingsgerichte (wieder-)entdeckt werden. Ebenso können durch Beeinträchtigungen andere Vorlieben entstehen. Aktuelle Äußerungen der zu pflegenden Person oder Beobachtungen, die auf Änderungen ihrer persönlichen Vorlieben schließen lassen, sollten daher kontinuierlich in der Essbiografie dokumentiert werden. Lassen Sie hilfreiche Angaben oder Erfahrungen von Familienmitgliedern oder Freunden ebenfalls in die Essbiografie einfließen, wie auch die von Pflegenden, Betreuenden, dem Sozialen Dienst, behandelnden Ärzt*innen oder Therapeut*innen.

Ein Beispiel aus der Praxis:
Eine an Demenz erkrankte Bewohnerin einer Senioreinrichtung, Frau M., blieb beim Mittagessen nie am Tisch sitzen. Immer wieder stand sie auf und lief auf dem Gang umher. In der Essbiografie ließ sich kein Grund dafür finden. Beim Besuch einer Freundin von Frau M. zur Mittagszeit ergab sich ein Gespräch zu dieser Situation. Die Freundin erzählte, dass dies nicht verwunderlich sei, da Frau M. früher in einer Spedition gearbeitet habe, in der es mittags so viel zu tun gab, dass an ein ruhiges warmes Mittagessen nicht zu denken war. Die warme Mahlzeit verzehrte sie dann üblicherweise in Ruhe abends zu Hause. Ab diesem Zeitpunkt half es, Frau M. mittags in dieser Situation der Vergangenheit abzuholen und zu erwähnen: „Heute ist ja wirklich wieder viel los ist, aber wenn Sie kurz Zeit haben, dann gönnen Sie sich eine Pause und ein warmes Essen, sodass Sie im Anschluss fleißig weiterarbeiten können.“ Meistens setzte sich Frau M. dann erleichtert und dankbar an den Tisch und freute sich über die warme Mahlzeit.